Sus Zwick schreibt nach der Langzeit-Performance «Ohne Titel» von Cléa Chopard am Freitag 5.12.2014 von 16:00-23:00 Uhr anlässlich des Festivals für Aktionskunst BONE 17 kuratiert von Valerian Maly und Maya Bösch im Schlachthaus Theater Bern.
Wir steigen die steile Treppe in den Keller des Schlachthaustheaters runter und stehen oben, wo üblicherweise das Publikum sitzt, um das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen. Wir sehen aber auf kein Geschehen. Doch von Weitem ist etwas zu hören. Darum steigen wir bis ganz runter. Der Bühnenraum ist unterteilt, er besteht aus einem hinteren Gewölbeteil und einem offenen, gut einsehbaren vorderen Teil. Aus dem hinteren Teil, der an eine Apsis in einer Kirche erinnert, ertönt eine feine Stimme, die ein kurzes Lied auf Französisch singt, eine feierliche, andächtige Stimmung.
Et j’ai pris une fleur, tu m’aimes, un peu, beaucoup, à la folie, pas du tout, tu ne m’aimes pas, tu mourras et j’ai pris une fleur, tu m’aimes, un peu, beaucoup.
Cléa Chopard wiederholt das Lied immer und immer wieder mantramässig im selben Rhythmus mit der gleichen Betonung, ganz fein und schön. Der Übergang vom Ende des Liedes tu mourras zum Wiederbeginn et j’ai pris une fleur ist unhörbar, es gibt keinen Anfang und kein Ende, ein unendlicher Kreis. Der Text des Gesanges, den wir so ähnlich aus der Jugendzeit kennen, das Spiel mit dem Zupfen der Blüten der Margerite, sie liebt mich, sie liebt mich nicht – sie liebt mich, sie liebt mich nicht, weckt Erinnerungen.
Die Sängerin ist nicht zu sehen, so gehen wir näher heran, zur Apsis. Da steht sie, die Performerin, Cléa Chopard, auf einem Stuhl. Entlang der Wand sind behelfsmässig grosse Papiere aufgehängt. Wie wir dazukommen schreibt sie gerade am dritten Blatt. Die zwei Ersten sind schon in kleiner Krakelschrift voll geschrieben. Beim Nähertreten sehe ich, dass sie den Text von ihrem kurzen Lied aufschreibt, tu m’aimes un peu, beaucoup… immer wieder, immer weiter. Den Bleistift hält sie auf ungewohnte Weise zwischen dem Mittel- und Ringfinger. So schnell wie der Rhythmus des Liedes kann man gar nicht schreiben. Es scheint schwierig, gleichzeitig zu singen und gar nicht genau das zu schreiben, was man singt und das über Stunden. Eine super Hirnleistung, ein kleines Kunststück. Beim näher Hinsehen erkenne ich, dass manchmal ein Wort fehlt.
Ihr Gesang ist sehr schön und eindringlich, die Akustik im Raum wunderbar, der Klang lässt mich nicht so schnell wieder los, so dass ich ihn noch Tage später im Traum höre. Ich habe sonst eher Mühe mit dem Absehbaren von Langzeitperformances, weil oft nichts oder wenig passiert. Hier, obwohl ich weiss, dass sie drei Stunden weitersingen wird, erzeugt es über das Konzept hinaus eine wunderschöne Atmosphäre, in der ich gerne verweile.