Maren Rieger schreibt nach den Performances am Samstag 13.9.2014 anlässlich des International Performance Art Giswil 2014.
Ich beginne nicht mit A und ende nicht bei Z, sondern ich springe und lasse Zwischenräume, fange mit dem Z an, wie
Zufällig, Zitat
Es ist schön, wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch. (nach Lautréamont, Gesänge des Maldoror)
Am Ende der Arbeit «Im Feldraum» kehrt die Frau auf dem Fahrrad zurück und der Mann, der vorhin unter dem Baum gepicknickt hat, kommt mir auf dem Weg von der Turnbinenhalle entgegengerannt. Ob die beiden sich nun auf den wunderschönen, bunten Picknickdecken niederlassen? Was wird die lesende Frau dann dazu sagen? Der Maultrommelspieler läuft derweil weiter den Bach entlang in die Ferne. Ich kehre auch um. Die beiden, die sich am Wegrand ausgeruht haben, sind wieder verschwunden. Nur der Bauer mäht im Hintergrund weiter seine Wiese, hin und zurück. Diese Joggerin habe ich doch auch schon mal gesehen, oder? Ob die Frau im Feld eigentlich besonders wohlschmeckende Kräuter für die Ziegen pflückt? Sie arbeitet sich planvoll durch das Grün und ich erinnere mich an einen Text von Heiner Müller: «Das Gras noch müssen wir ausreissen, damit es grün bleibt.» Ist dies eine surrealistische Tätigkeit? Das zufällige Zusammenbringen von Gegensätzlichem, das Inszenierte und das scheinbar Wirkliche in der Feldforschung ermöglichen es mir, das Undurchschaubare und Kontingente meiner Welterfahrung in Bildern zu bannen, die mich als Betrachterin hineinziehen und in Bewegung versetzen. Meine Wahrnehmung kann nicht mehr unterscheiden zwischen inszeniertem tableau vivant und realen Situationen und ich will auch gar nicht mehr unterscheiden, sondern meinem Imaginären willfahren, das mitspielen will. Ich lustwandle über das Feld und freue mich am Fort-Da-Spiel, das die PerformerInnen mit mir spielen und fast verliere ich den Anschluss an die nächste Performancestation, denn meine Mitzuschauer sind schon weitergezogen. Ein letzter Blick zurück auf das grüne Spielfeld — und ich spüre den festen Boden unter meinen Füssen. Es ist kein moosiger Morast mehr, dessen giftige Ausdünstungen mich diese Bilder halluzinieren liessen. Dieser Kinderwagen kommt mir auch unheimlich bekannt vor…(weiterlesen bei déjeuner sur l’herbe, Ein Nachmittag auf dem Land, Wimmelbild)
Mythos, Marta
s. Gründungsmythos, der. Eine identitätsstiftende Handlung aus der (Ur)Geschichte des Ortes.
Als ich ankomme, ist das Netzwerken bereits mitten im Gange. Ich bahne mir meinen Weg durch die Zuschauer und erkenne eine liegende weibliche Gestalt, die eine Hand zu uns ausstreckt. Eine Zuschauerin geht über die schmale Mauer zu ihr hin, sie nimmt ihre Hand und knüpft einen Faden vom eigenen Handgelenk an ihres. Dann lässt sie ihr Spielraum zurückzugehen, aber nur soweit der Faden reicht. Ich blicke über die Frau hinweg auf den Fels hinter ihr und sehe einen Eingang mit einer Holztür, die angelehnt ist. Wer ist diese Frau? Sie wirkt auf mich wie eine Nymphe, die diesen wilden Ort, an der Schwelle zwischen Natur und Kultur, hütet. Lebt sie in der kühlen Grotte? Eine Najade, die hier ihr Spiel mit uns Menschen treibt? Weitere Zuschauer treten zu ihr und werden in ihr Netzwerk eingesponnen, bis sie den letzten Faden von sich löst – aber sie behält die Fäden in der Hand und nun weichen sie respektvoll zurück: was wird sie mit uns tun? Sind wir Zeugen einer rituellen Opferung, um die Götter der Quelle und des Flusses milde zu stimmen? Von Giswil her läuten die Kirchenglocken als wollten sie uns aus dem fabelhaften Bann ziehen und nun beschreitet die Nymphe im goldenen Hemd mit ihrer Schar rückwärts den Weg zur Schlucht. Dort gibt es keinen Ausweg!Ich erinnere mich an Walter Benjamins These vom Engel der Geschichte und das Bild von Paul Klee. Es ist ein spannender Augenblick und tatsächlich, sie gehen zum Wasserfall, sie löst die Fäden, bindet sie an Steine und — ich halte den Atem an – wird sie in einer Feldspalte hinter dem Wasserfall verschwinden? Wird der Fels brechen und die Quelle uns überfluten?
«Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.» (Walter Benjamin)
Fischgrät
Mein Herz schlägt schneller als ich endlich in der Turbinenhalle stehe – es ist einige Jahre her, dass ich zuletzt hier war – die Halle ist so hell, so blank, strahlend kalt. Ich freue mich, als ich Andrea Saemann sehe, die eine braue Jacke mit Fischgrätmuster trägt, uns begrüsst und sich bei allen Beteiligten des Festivals bedankt. Auf einmal ist die Verbindung da, ein SCHLÜSSELREIZ: diese Jacke kenne ich doch an ihr. Andrea strahlt eine Kraft aus, die das Alte, die vergangenen Festivals mit dem Hier und Jetzt und dem Kommenden, das nun durch ihre Leitung bestimmt wird, verknüpft. Sie verwebt die unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Ländern, den Ort und das Publikum in einer Textur, in deren beweglicher Dramaturgie ich mich als Gast sicher durch den Schwellenzustand des «betwixt and between» geführt fühle. Nachdem ich mich der Geschichte des Ortes versichert habe und mich freiwillig im Liminalen bewegt habe, bin ich nun angekommen. Der dritte Schritt findet statt, wir sind als Festivalgemeinschaft initiiert, habe die Schwelle zum Neuen überschritten.
Vogel
«Es ist nicht so leicht, ein Vogel zu sein.» (zitiert nach Ewa Zarzycka)
Ewa ist eine Buchstabenfrau, das verbindet sie mit Andrea Saemann, die auch die Dinge EINFACH SAGEN lässt. Nein, Holz hat sie sicher nicht in den Wald getragen gestern, aber etwas aus dem Nichts geschaffen: Sie verschiebt und verdichtet die Buchstaben so geschickt, dass ich von ihrer Lust am Text angesteckt werde. Natürlich wiegt das leere Heft schwerer als das beschriebene, Ewa füllt die Zwischenräume der Buchstaben mit einer Leichtigkeit, die sie schweben machen… Gerne möchte ich weiter ihren Dialogen mit dem Briefträger und ihrem Mann lauschen und mit ihr an einem Strang ziehen… Ja, sie ist eine Poetin, sie schöpft Un-Sinn, kann nebenbei beweisen, dass eine Künstlerin alles hervorbringen kann und auch noch so schön lügen. Ewa untergräbt die symbolische Struktur der Sprache so beiläufig, dass ich froh bin, dass sie Anna neben sich hat. – von hinten wie von vorn A N N A – die ihre Kompositionen in meine Sprache transponiert. Ihrer beider Dialog füllt den Raum und lässt mir gerade genug Zeit zum Nach-Denken, dass ich ihrem hintergründigen Humor mit heiterer Gelassenheit gespannt begegne – bis sie mich nach allen Regeln der Kunst das nächste Mal über meine Sinn-Suche stolpern lässt. Ich bin sicher, dass es ihr noch gelingen wird, mehr aus den Glocken die läuten zu machen. Grau ist alle Theorie, das hat Ewa mir heute schwarz auf weiss bewiesen.
Resonanz
s. das verstärkte Mitschwingen eines schwingungsfähigen Systems.
Wir sind heute mitunter ein schwer zu bewegendes Publikum und so bin ich dankbar für die Anregung durch Fränzi und Chris, die demonstrativ aus der offenstehenden Türe der Halle hinaus gehen. Einen Blick werfe ich auf die kauernde Gestalt am Boden, die mit einer Leitung aus dem Fenster mit draussen zu kommunizieren scheint. Ich greife den Anschwung auf, den mir andere Zuschauer geben und überlege, wie ich um die Ecke denken soll. Da sehe ich einen kleinen transparenten Beutel am Ende des Schlauchs, der sich zart hebt und senkt. Ist es Dorothea Schürchs Atem oder der Wind? Schon höre ich Klänge aus der Halle, eile zurück und finde sie die Resonanzen der Hallenwände mit einem Megaphon anspielend wieder. Hoffentlich gelingt es ihr nicht, die Eigenfrequenz der Halle zu erreichen. Wir wandern mit ihr und staunen, wie ihr Atem und Schwingung am Mikrophon zunehmend aus dem Takt geraten und sie schliesslich hinter einer Tür verschwindet. Ohrenbetäubend klingt der Sturm, der aus den Lautsprechern auf mich einströmt, bis sie verwandelt aus der Tür springt, farbig, freudig ins Freie verschwindend. Eine Klangforscherin, der es gelingt, dass ich denke, doch, es ist leicht, ein Vogel zu sein. (s. Vogel)…Komm ins Offene, Freund! dichtete Hölderlin vor rund 200 Jahren, als er aus der Schweiz (irgendeinem Ort mit -wil, oder -il oder so) zurückkehrte nach Deutschland, in seinem «Gang aufs Land». Auch er hat ein Konzert der Stimme komponiert, anschreibend gegen die bleierne Zeit:«… Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das GewünschteWir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,Und von trunkener Stirn höher Besinnen entspringt,Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.»
Berührend
Ich berühre Dich.Du berührst mich.Er berührt mich auf seiner Bahn durch die Volten, die er schlägt, das Straucheln, wie er trotzdem sich durchschlägt.Sie berührt mich, wenn sie ganz bedächtig bei sich ist, ihren Bewegungen nachspürend, ihre Präsenz auf uns gerichtet.Es berührt mich der liebevolle Dialog zwischen Ruedi und Monika, ihre Energie, mit der sie aus der Tiefe des Raumes auf uns zu schreiten.Wir berühren sie nicht.Ihr berührt uns.
Augen
Sehen, als ob der Bleistift an meinen Wimpern hängt.Schreiben, als ob meine Worte Finger hätten, das Erlebte zu berühren.Sagen und versuchen, die verschiedenen Stimmen und Körper im Raum mitschwingen zu lassen.
Zeugen
Warum wir in der Performance Kunst eben nicht blosse Zuschauer oder Beobachter sind, sondern aktiv beteiligte Zeugen. (s. Brecht: Strassenszene) Sie zeigen und lehren uns, was es heisst Augen Zeugen zu werden. Verantwortlich zu sein für das, was ich sehe… das bedeutet in der Konsequenz doch, dass ich mich auseinandersetze über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik. Da sehr viel von unserem Wissen über die Welt von anderen Augenzeugen stammt, ist es zentral, unsere Rolle als Augenzeugen zu reflektieren. Meine eigene Position in einem Ereignis reflektierend macht mich Kunst zu einem aktiven Zeugen, ich kann nicht aufhören zu denken, zu reden und zu berichten, was ich gesehen habe…
«Augen Zeugen — unvollständiges Alphabet für Giswil»geschrieben von Maren Rieger am 13. und 14. September 2014, daselbst
Für Andrea, die Buchstabenfrau, die mir diese Herausforderung zutraut.
Danke Roland Barthes, Julia Kristeva.Danke den Performance Künstlerinnen und Künstlern.
International Performance Art Giswil 2014, Beteiligte:Walter Zünd und Edwin Huwyler (Giswil, Wilen/OW), «Führung in Rudenz (Ortsteil Giswil)»
Suzana Richle und Sara Luescher (Zürich), «Im Feldraum», Performance mit Claudette Ebnoether und Momo, Angela von Rotz, Tim Barco, Nanny Burri, Alena Kundela, Franziska Schäubli und Svenja, Dominik Lipp und Fabienne Fuchs, Flavio Pinton, Laura Laeser und Daniel Häller, Zara Naqvi und Shona, Kobi Gruenenfelder + 1, Verena Gisler + 1, Christina Brandenberger
Marta Kotwica (Krakau), «Meet Me On The Bridge»Ewa Zarzycka (Lublin, Wrocław) mit Anna Wälli (Übersetzung), «Fo Pa»Dorothea Schürch (Zürich), «5 Turbinen»Monika Günther und Ruedi Schill (Luzern)Thomas Köppel und Nina Langensand (Genf)Przemysław Branas (Krakau), «domina(c)tion of space»Grupa Azorro (Oskar Dawicki, Igor Krenz, Wojciech Niedzielko, Lukasz Skapski) (Warschau), «Everything Has Been Done I», Video