Joëlle Valterio:Simulacrum
Joëlle Valterio schreibt nach der Performance «Simulacrum» von Judith Huber und Silvia Isenschmid am Freitag 20.3.2015 im Kaskadenkondensator Basel.
Vor der Performance
Vor der Performance von Judith und Silvia, im Tram vom Bahnhof Basel zum Kasko, habe ich mir Gedanken gemacht über den Titel. Simulacrum. Simulacre en français. Wenn ich so tun würde als ob ich lateinisch könnte, würde ich dazu behaupten: simula, simulare, simuler, similaire – so als ob, ähnlich. Und lakrum, lacrima, larme – Träne. Simuler les larmes. Larmes similaires. Faire comme si on savait pleurer. Ähnliche Tränen. So tun als ob man ähnliche Tränen weinen könnte. Im Tram vom Bahnhof zum Kasko entstehen pathosvolle Assoziationen. Simulacrum, Simulakrum – da muss ich auch an Sakrum denken, Kreuzbein, sacré, sacrifice – «sacré est ce pourquoi on serait prêt à se sacrifier» habe ich mal gehört. Pathosvolle Gedanken wieder. Was ist wert, dass man sich opfert? Wofür gebe ich was und wieviel und wie auf… sodass ein Tanz zu zweit entstehen kann?
Nach der Performance
Nach der Performance von Judith und Silvia gibt es ein Lindy Hop Workshop. Judith hatte es in ihrer Einladung per Mail angekündigt, so dass ich auch passende Schuhe und Kleider anhabe. Didi und Karin leiten den Workshop an. Meine Tanzpartnerin ist Lea, eine junge Musikerin, die mir vor der Performance erzählt, wie sie einmal in einer Kirche spielen wollte, aber weil sie in ihrem Projektbeschrieb das Wort Andacht gebraucht habe, habe die Kirche plötzlich entschieden, sie dürfe doch nicht dort aufführen. Was heisst das eigentlich Andacht, habe ich gefragt. Wir wussten es nicht genau, aber waren uns einig, dass es etwas mit Religion und Kirche zu tun hätte.
Weil Lea Musikerin ist, kann sie gut Rythmus zählen. Das hilft beim Lindy Hop. Beim Lindy Hop muss eine der zwei Tanzpartnerinnen führen. Ich kann nicht so gut zählen, auch Kopfrechnen kann ich nicht gut. Und mir die Schritte merken, kann ich auch nicht. Trotzdem soll ich führen, da ich rechts stehe. Das haben wir nach einer Weile gemerkt und Didi hat gesagt, das sei so. Didi sagt auch, zwischen den Partnerinnen soll es eine gewisse Spannung geben, damit es klappt mit dem Führen und Folgen. Nach einer Weile übernimmt Lea die Führung, weil sie eben gut zählen kann – aber ich muss deswegen jetzt links stehen und komme noch mehr durcheinander mit den Schritten. Die Musik ist manchmal zu schnell – dann wird’s schwierig für uns beide – wir kommen dem Tanz nicht nach. Aber die anderen Paare können’s nicht besser als wir. Nach einer Weile möchte Lea einfach nur tanzen und nicht die Schritte nachmachen, sagt sie mir. Dann entscheiden wir, eine Pause zu machen.
In der Pause treffe ich eine Kollegin, die ich vorher nicht gesehen hatte. Sie sei leider zu spät gekommen und habe die Performance verpasst. Wie war’s? Ich erzähle:
Es ist eine Performance über ihre Zusammenarbeit, von Silvia und Judith, über ihren Altersunterschied. Das steht auch so im Programm. Sie spielen Musik zusammen in der Performance – Bass und Schlagzeug – und schreien zusammen. Und die Musik ist manchmal wie rennen, stolpern, nicht nachkommen, fallen, wiederaufstehen und weiterrennen. Zusammen. Beim Spielen schauen und hören sie sich zu und nicken manchmal gleichzeitig mit dem Kopf. Und es gibt einen Moment, in dem sie ihre Jacken austauschen – sie schlüpfen rein und raus und rein und raus, wie aus der eigenen Haut in die Haut der anderen – wie eine Häutung – die Haut der einen wird zum Haus der anderen und wenn die Jacke von einer Frau zur anderen fliegt, sieht es aus wie ein Schmetterling. Und sie lesen Auszüge aus ihren Arbeitstagebüchern. Und man sieht sie auch in einem Video, wie sie über ihre Zusammenarbeit schwatzen. Und später auch in einem zweiten Video, wie sie zusammen mit einer dritten Frau in einer Hängematte in einem grünen Feld hängen.
Und dann zeige ich meiner Kollegin den Spickzettel von Judith und Silvia an der weissen Wand: der Spickzettel ist weiss und klein und ein paar Zeilen sind drauf, mit Bleistift geschrieben. Eine Geheimpartitur für den gemeinsamen Tanz, habe ich später gedacht. Und dann sage ich meiner Kollegin: «Und dann gab es ein Lindy Hop Workshop». Meine Kollegin, die die Performance von Judith und Silvia nicht gesehen hat, fragt: «Warum Lindy Hop?»
Später, im Zug auf dem Nachhauseweg, sitzt eine junge Frau mir gegenüber. Neben ihr auf dem Sessel ist eine grosse Orchidee in Zellophanpapier gewickelt. Die junge Frau hat sehr langes, blondes Haar, wie die Mähne eines Einhorns und ihre Fingernägel sind rot angemalt, mit kleinen Sternen auf dem Rand.
Judith malt sich neuerdings auch die Fingernägel an, hat sie mir erzählt. Sie ist gefallen im Winter und hat sich die linke Hand gebrochen. Sie musste einen Gips tragen. Und unter dem Gips sind die Haare gewachsen. Wie ein Fell, hat Judith gesagt. Und in dieser Zeit hat sie auch eine Fingernagelkur gemacht, zusammen mit Silvia. Davon haben sie in der Performance auch erzählt. Judith’s Hand wurde also gebrochen, ist haarig und hat Nägel bekommen. Jetzt, ohne Gips, malt sich Judith gerne weiter die Fingernägel an. Und sie spielt Schlagzeug und Bass damit. Das Fell konnte ich während der Performance nicht sehen.
Silvia und Judith haben mich angefragt, ob ich für apresperf.ch über Simulacrum schreiben möchte. Deshalb habe ich im Kasko eine Tonaufnahme gemacht die 52 Minuten dauert. Nach der Performance, als die junge Frau mit der Orchidee mir gegenüber im Zug sass, habe ich die Tonaufnahme gehört und folgende Notizen dazu gemacht:
Joëlle Valterio,
9 www.unwrapthepresent.blogspot.ch