Mit «unwrap the present» (UTP) lädt Joëlle Valterio jeden Monat in den Werkstattraum des PROGR ein. Sie setzt ihre Performance jeweils in Kontrast zu zwei Arbeiten von Gästen, in Form einer spontan entstehenden Komposition, eines parallelen Einwirkens unterschiedlicher Positionen. Irena Kulka Joëlle Valterio kauert, umarmt die Stille. Verweilt entspannt, dinghaft, präsent. Ihr blosser Körper in einer Reihe mit ein paar Werkzeugen und zerknitterten Papierobjekten. Zerknülltes, Abgelegtes – ausgelegt. Dazwischen ist viel leerer Raum, Distanzen – Ruhe. Sind Silhouetten da, während sie noch kauert? Schatten teilen den Raum mit Joëlle, sie reihen sich ein zwischen die ausgelegten Objekte. Die Verwendung einfacher Gebrauchswerkzeuge zieht sich durch Joëlles Arbeiten: Papier, Schere, Schnur. Improvisiert. Heute vollzieht sie ihre Bewegungen mit der Klarheit einer Schachspielerin: Schiebt Knäuel zur Diagonalen. Oder an die Front. Steht, kniet in Position. Bleibt, unmerklich sichtend, bevor sie – wie von neuen Orten angezogen – dem Impuls der Entdeckung folgt. Im geisterhaften Regelwerk aus Pausen und erneuten Blicken. Ihre verinnerlichte Zeit reibt sich an der Erwartung. In die Stille tickt die Uhr. Jöelle hält sich im Zaum. Lauscht, auf der Lauer, auf den Spuren einer ungreifbaren Syntax. Sie erscheint gespannt – hier, anderswo, blickt zurück und voraus, ihren Wegen nach, hält inne und entscheidet. Für Momente irritiert eine tierhafte, fast tänzerische Geste. Die feinste Fingerzeichnung entrollt und verstreut die Spur der Schnur.
Die Konsequenz der Formungen hat etwas Wunderschönes, Gelebtes, Magisches. Joëlle zaubert zwischen den Orten, lässt die Deutlichkeit erscheinen. Sie liest aus und entliest – liest den Abdruck im Papier. Ist es ihr Umriss, ein Bild, das uns überfällt? Es schwebt mit immateriellem Gewicht. Verpacktes wird entbunden, und dann immer schwerer, die Schnur schneidet ins Fleisch. Jöelle schnappt geschickt die Fäden, reisst an den physischen Momenten. Es tanzt! Es wirbelt im Drehtanz in der Luft. Ist es ein Embryo, ein Tier, das unversehens zu Boden kracht? Dann entpackt und enthüllt sie – einen Stein.
Erneut drapiert sie das Papier um ihren Kopf herum als Hülle – und drückt sie an. Suchend und insektenhaft verpuppt zerrt sie mit brutal entschiedenen Bewegungen am fast unsichtbaren Faden, reisst an der Spannung. Und dann hebt das Werk ab, unfassbar zart – standhaft – blind. Die Hände greifen, schieben und legen die hohle Gussform ab.
Über die Fortsetzung des Abendprogramms mit den Performances von Manmeet Devgun und Natascha Moschini findet sich ein Text auf www.apresperf.ch.
Irene Kulka ist Performerin, Butoh-Tänzerin und Kommunikatorin in Zürich. irena kulka@gmail.com
9 https://unwrapthepresent.blogspot.com/
Erstpublikation des Textes im Kunstbulletin 09/2015, Performance im Blickfeld.