Dorothea Rust: Wanderlust
Dorothea Rust schreibt im Auftrag von International Performance Art Giswil zu den Performances des Festivals am Samstag 8.9.2018 in Giswil.
Seit 1998 wird zur International Performance Art Giswil in die Turbinenhalle am Rande von Giswil eingeladen. 2017 zeigten sich die Performances anlässlich einer «Dorfpromenade» an neun Schauplätzen im Dorf. Dieses Jahr nehmen nun die Kunstschaffenden und ein Landschaftsexperte die Gäste mit in die Giswiler Umgebung. Das Publikum wählt zwischen vier angebotenen Spaziergängen und macht sich – ausgestattet mit einer Wegzehrung – in seiner Wandergruppe auf den Weg. Niemand wird also alles sehen und hören können. Umso spannender wird es sein, einander später zu erzählen, was man erlebt hat. Denn zu weiteren Performances und dem gemeinsamen Abendessen treffen sich alle erneut in der Turbinenhalle. In ihrem Echoraum hallt die Landschaft wider. (Text aus dem Flyer)
Einleitung
Bericht von Dorothea Rust, entstanden aus Notizen beim Wandern, unterwegs mitschreibend, anderntags transkribiert, dann in Etappen bis 8 Monate später aus der Erinnerung am Text geschrieben. Diese lange Zeitspanne des Schreibens hat sich mittlerweilen zu (m)einer Strategie gemausert. Sie überprüft, wie nachhallig Erlebtes in eine Zukunft, die schon wieder Vergangenheit ist, wirkt. Während dem Schreiben bin ich noch einmal anders in der Giswiler-Landschaft bei Gesprächen und performativen Intermezzi um Sagen und anderes kreisend gewandert. Zusammenfassend kann ich sagen: diese Ausgabe ‚Wanderlust’ begünstigte ja strich heraus, dass Performance nie nur willkürlich aus dem Bauch heraus entsteht. Auch der Bauch-Aspekt wäre genauer zu untersuchen, da das Gedärm eine besonders sensible-sensitive Zone des Körpers ist, sozusagen ein Gehirn-Motor im Bauch. Worauf ich hinaus will ist, dass Performance immer von Umgebung und Kontext affiziert wird und seismographisch reagiert, was gerade das Vermögen von Performance/Kunst* ist. Als Schlussfolgerung der Giswiler-Performance-Erlebnisse 2018 könnte auch behauptet werden, dass Performances die neuen urbanen Sagen sind, die in der heutigen Zeit alternative Handlungsweisen hervorbringen. Auch könnten sie als Ableiter gesehen werden und aufzeigen, wie mit Unwägbarkeiten des Lebens zurande zu kommen wäre.
Nachmittagsprogramm
Mein Vorhaben, sich einer von vier geführten Giswiler Wanderungen samt Picnic und Performances anzuschliessen, wird dahingehend etwas gebremst, weil ich zu spät im Bahnhof Giswil ankomme. Auf der Internetseite des Festivals bin ich aus Versehen auf die Festival-Ausgabe von 2015 gerutscht, und deshalb mit dem Plan im Kopf losgereist, dass die Besammlung am Bahnhof Giswil um 13h sei. Indessen Begrüssung und Ansprache des Gemeindepräsidenten vor versammelten Wanderlustigen hat um 12h stattgefunden. Anschliessend sind die vier Wandergruppen in verschiedene Richtungen abmarschiert. Also eine Stunde verspätet am Bahnhof Giswil halte ich mich an den von Andrea geschickten Routenplan mit gelben, schwarzen und violetten eingezeichneten Linienwegen. Ich will eigentlich auf die (welche Farbe?) Route mit Eliane Rutishauser und Beat de Roche, hole aber die Wandergruppe von Milena Buckel ein und hänge mich in diese Routengeschichte mit ihren Sagen ein.Was ich durch die Anlage dieses Spaziergangs und so nebenbei in Gesprächen erfahre: Die Menschen, die in diesem Gebiet durch alle Zeiten lebten, mussten sich mit Naturbegebenheiten und ihren Katastrophen arrangieren, z.B. Dämme bauen, um die «Laui», die immer wieder mit Stein-Drecklawinen breiteste Schneisen in die grüne Landschaft zwischen Bäume riss, zu besänftigen und zu bezähmen.
Die Sage von der hungrigen Laui und vom alten «Meitli», das in die Laui seine Brosamen und Speisereste vom Tischtuch in das Bächlein schüttete, erzählt uns die Assistentin von Milena Buckel. Ich weiss ihren Namen nicht mehr und bin auch nicht sicher, ob sie wirklich erzählt, oder uns einfach die Sagen auf einem Zettel aus ihrem geflochtenen Korb wie eine Speise dargereicht hat.Wir stehen im breiten Bett der «Laui». Die Sage geht so: Das Meitli hätte, wie es sagte das «ghungrige Bächli» gefüttert, weil es glaubte oder wusste, dass «wenn i einisch nimmä umä bi und nimä z ässä gibä, so frisst es das ander äwäg!». Die Leute hätten gelacht darüber. Als das Meitli dann tot gewesen sei und niemand mehr das Bächlein fütterte, hätte es sich bei jedem Gewitter weiter in die Landschaft gefressen und sei zum verheerenden Wildbach geworden, der Richwil zerstörte.
Vorab hat es noch andere Sagen an ausgewählten Orten ‚zu kosten’ gegeben. Ich habe sie verpasst und deshalb auch keine Zettel zum Nachlesen bekommen. Was ich verpasst habe, wird durch das Gespräch unterwegs mit Otto wettgemacht. Er, ein von auswärts Zugezogener, lebt hier seit vielen Jahren mit seiner Familie und verfolgt Sagen-Spuren in dieser Gegend lebhaft. Er machte mich auf die Publikation «Giswiler Sagen» von Hanspeter Niederberger aufmerksam. Dieser hätte regionale Sagen aus Leidenschaft gesammelt, sei leider zu früh verstorben, respektive von einem Segeltörn im Mittelmeer nicht mehr zurückgekehrt. Otto scheint mir eine Inkarnation von Hanspeter Niederberger, denn er erzählt angeregt, taucht in das Sagenhafte, wo wir gerade zugegen sind, so auf dem Damm, auf dem wir der «Laui»-Schneise entlanggehen. Zusammen vermuten wir, dass Ortsnamen oder Namen von Plätzen, Ecken, Hügeln etc. nicht einfach abstrakt sind. Sie müssen woher kommen und sind eventuell auf Tätigkeiten der Menschen, auf deren Eigennamen oder auf gravierende Ereignisse zurückzuführen. Wenn es um Sagen geht, wird jede*r zum*r Spezialist*in, wer kann schon ihre Fakten überprüfen? Sagen und Legenden sind oft, da sie auf mündlicher Überlieferung basieren, quellenmässig unverbürgt. Sie können sich auf reale Orte und Personen in der Vergangenheit beziehen. Sie sind widerspenstig und faszinieren, weil sie in den Lücken offizieller Geschichtsschreibung wühlen und sich Obrigkeiten und Hierarchien entziehen.
Milena Buckel ist die geheimnisvolle Gestalt dieser Wandertour: Sie taucht für mich zum ersten Mal bei einer Wald-Hütte auf. Wir, die Wanderlustigen sind weiter oben auf dem Weg und schauen zu ihr hinunter. Sie sitzt auf einem rohen selbst-gebauten ‚Ritiseili’, das an einem oder zwei dicken Baumästen hängt. Das ‚Ritiseili’ ist schon da gewesen. Irgendwer hat es aus zurechtgestutzten kleineren Ästen gebaut und hier eingerichtet. Milena, die junge Frau im blau rot weiss gemusterten Dirndl und Wanderschuhen schwingt sich auf ihm durch die Luft. Sie kreuzt die Legenden- und Jetzt-Zeiten, sie könnte das Sagen-Meitli sein, das den «Laui»-Bach mit Brosamen und Speiseresten gefüttert hat.Sie nimmt eine Beige Decken, die neben ihr bereitliegen, und geht in den Wald hinein. Wir folgen ihr brav und sind sicher, dass sie nichts Böses im Schilde führt. Sie faltet die Decken auf und legt sie grosszügig auf dem Waldboden aus. Die Decken, Tischtücher und Sitzdecken in einem, liegen weich auf dem Waldboden und setzen uns in eine lauschige Atmosphäre. Jetzt wird zum Picnic aufgerufen. Alle packen sofort ihre mitgebrachten Würste, Brote, Äpfel, Rüäbli und anderes mehr aus. Nicht ‚das Bächli’ wird gefüttert, wir füttern uns, nicht nur mit Essen auch mit Gesprächen. Ich sitze, wie sich herausstellt, auf einer Decke neben dem Gemeindepräsidenten Beat von Wyl. Im Archiv der Website von ‚International Performance Art’ sehe ich auf einem Foto, dass er die Eröffnungsrede, die ich verpasst habe, gehalten hat. Ich ‚wittere’, dass ich beim Picnic etwas mehr über Leben und Leute in Giswil aus erster Hand erfahren könnte. Den Gemeindepräsidenten befrage ich zu seiner Tätigkeit, dann zur Grösse der Gemeinde, den Abstimmungen und mehr. Er erzählt, dass ca. 10% der Bevölkerung der ca. 2’200 Stimmberechtigten an die Gemeinde-Versammlungen kämen, hier werde direkt abgestimmt, das sei direkte Demokratie pur. Er erzählt auch vom Theaterleben, das ein substanzieller Teil des Gemeindelebens sei. Sie hätten immer wieder professionelle Regisseure, die die Begeisterung der Bewohner*innen für das Theater einfangen und in interessanten Stücken zu motivieren und umzusetzen verstünden. Er, der Gemeindepräsident, sei dieses Jahr zum ersten Mal beim ‚Performance Art Festival Giswil’ dabei, und er wäre auch gerne letztes Jahr dabei gewesen, aber es sei sich zeitlich nicht ausgegangen. Dann fragt er mich ein bisschen aus, wie ich das Festival und diese Wanderlust-Promenaden einschätzen würde. Was ich dazu sagen kann, sage ich ungefähr so: es sei gut, dass diese Art der Kunstbegegnung nicht nur in den grossen urbanen Zentren stattfinden würde. Gerade die Randregionen hätten’s in sich, hier können Lebensbereiche und Menschen temporär auf Tuchfühlung gehen, die sich eher fremd bleiben würden. Die Nachwirkungen dieser Begegnungen und Erlebnisse können nicht überprüft werden, sie tauchen wieder ab in den Alltag und wirken wohl wo aus dem Untergrund. Was ich heute noch hinzufügen würde: Wie in der Natur sind Randzonen Bereiche, wo die meisten Begegnungen zwischen den Arten stattfindet.Eine gute Begegnung für mich. Aus einer erweiterten Perspektive habe ich etwas mehr über die Giswil-Gegend erfahren, die ich schon einige Male aus Anlass der International Performance Art Giswil besucht hatte. Jetzt im Hinterher, in Zürich am Küchentisch sitzend und einige Tage später wieder im Zug an diesem Bericht weiterschreibend sehe ich mit dieser getönten Brille aus dem Zugsfenster durch das Gründickicht in das breite Steinbett der Laui. Das abgelagerte Steinmaterial in ihrem Bett rollt auf mich zu und bringt auch eine Begebenheit vor langer Zeit, die mir mündlich auf der Wanderung erzählt worden ist, zurück, dass Menschen, ja ganze Familien ermordet wurden, weil ihnen die Schuld am ausser Rand und Band geratenen Bach zugeschoben worden sei. Was den Gedanken aufbringt, dass sich Menschen und Kulturen mit den Naturelementen und Bedrohungen verzahnt entwickelt haben, dass sie teilweise gewalttätige Strategien und Rituale zur psychischen Bewältigung der Bedrohungen, die aus Legenden und Sagen-Erzählungen zu vernehmen sind, entwickeln mussten, weil sie auf sich alleine gestellt waren, kein Care-Team, keine Rettungsmannschaften zu Hilfe eilten und es keine Versicherungen gab, die die Schäden vergüteten.Auf dem Weg weiter, bevor wir zu einer kleinen Burg-Ruine gelangen, die im Weiler Kleinteil bei Giswil mitten in einer Wiese steht, passieren wir kurz davor noch das prächtige alte Haus, in dem der Sagen-Spezialist Hanspeter Niederberger, der Pionierarbeit geleistet haben soll, gewohnt hat, wie mir Otto und der Gemeindepräsident mitteilen. Weiter weg hören wir zuerst undeutlich und dann näher heran deutlicher Ländlermusik und sehen die Frauengestalt vom Wald in Dirndl und Bergschuhen auf der Burg-Ruine gehen. Die Sage vom Gespenst im Rosenberg liest sich so: «Zu oberst auf dem Gemäuer des alten Zwingherrenschlosses Rosenberg hinter der St. Antoniuskapelle im Kleinteil, Giswil, erblickten mutwillige Knaben ein altes Mütterchen. Sie wollten dasselbe necken und mit ihm Spott treiben und erstiegen auf einer Leiter die Mauer. Es war aber keine Spur mehr von dem Weiblein zu entdecken.» Wegen dem schönen Wetter und der Landschaft, die unsere Sinne einlullen, sind wir entspannt und heiter gestimmt unterwegs. Für mich wirkt die von der Sonne beschienene Szene eher leicht beschwingt als gespenstisch unheimlich: Milena, die Frauengestalt ist der Geist vom Rosenberg und nicht das Gespenst, von dem die Sage erzählt. Später steigt sie in die Ruine hinunter und wir gucken über die Mauerteile nach unten. Hinter einer Brockatdecke, die in ihrer ganzen Grösse, und sie ist ziemlich gross, parallel zur Wand von zwei Händen ausgestreckt gehalten wird, lugen zwei Beine in Bergschuhen hervor. Die Gestalt mit Decke ist ganz ruhig, sie wirkt still feudal. Im Hintergrund hängt ein weisses Spitzen-Tuch über einem Ast von einem Baum, der am und aus dem Gemäuer wächst. Ist das da unten einer der Schätze? Ein Geheimgang soll von der Rosenburg zur Burg Hunwil und von da zum Schloss Rudenz geführt haben, es hätte riesige Schätze in jenen Gewölben gegeben und die Burg bei der Alten Kirche hätte damals Verwaltungsfunktion gehabt, sagt der Gemeinderatspräsident, der immer noch mit von der Wander-Partie ist. Mit auf der Wanderung sind auch fünf junge Frauen aus Abchasien, sie verstehen kein Deutsch und kein Englisch. Eine andere junge Frau, die Russisch kann, übersetzt manchmal. Wir unterhalten uns angeregt in unseren je eigenen Sprachen, vor allem über die Apfelbäume, die sich anpreisen und uns anlachen, rundum vollbehangen mit roten Äpfeln. Die Abchasierinnen erzählen von einer Apfelsorte in ihrem Heimatland, deren Äpfel sehr gross sein sollen, Vanillegeschmack hätten und vor allem verkocht würden.
Wieder zurück bei der Turbine treffen wir auf die Wanderer*innen der anderen drei Gruppen. Ich höre ein wenig, was andere erlebt haben:Die Gruppe, die mit Tina Z’Rotz, Markus Schwander und Rahel Kraft unterwegs gewesen ist, hat die Anweisung bekommen nicht zu sprechen. Es sei anstrengend gewesen, es sei um Farben gegangen, sie seien mit farbigen Brillen auf der Nase gewandert. Viele Wochen später, in einem Kolloquium an der HSLU: Markus stellt seine Spaziergang-Projekte, die Teil eines Forschungsprojekts sind, vor, und erläutert, dass Sprechen während den Spaziergängen sehr unproduktiv sei. Ich habe nicht herausgefunden, warum die Wanderung für die Teilnehmenden anstrengend gewesen ist: Wegen dem steilen und schwierigen Gelände, oder weil sie nicht miteinander haben sprechen können? So flottieren meine Gedanken aus dem Aufgeschnappten ihre eigenen Schlaufen in diese Wanderung und in die von Eliane Rutishauser und Beat de Roche hinein, die ich alle beide nicht mitgemacht habe. Eliane sei mit feinen wechselnden Attributen in der Bekleidung durch Epochen hindurchgegangen, näher und auch wieder weiter weg aufgetaucht, auch prominent in einem goldenen Jacken-Bläser-Hemd. Sie hätte geklopft, man hätte dieses Klopfen aber nur von weiter weg gehört.
Das nachmittägliche Wandererlebnis geht in einer nächsten Station zuerst durch den Magen. Das Abendessen, Älplermagronen, schon fast eine Tradition dieses Festivals, findet wie immer auf der Rückseite der Turbinenhalle an Holztischen und Festbänken statt, führt hinüber in das Abendprogramm im kühlen White-Cube der Turbinenhalle. Die Wanderführer*innen und Beteiligten panaschieren – wenn das übersetzte französische ‚panacher’ farbig machen und mischen meint – Material und Erlebtes von den Wanderungen und kumulieren es in einer neuen sinnlichen Aufbereitung im Abendprogramm.
Abendprogramm
Imran Nafees Siddiqui & Habib Afsar & Mara Züstgemeinsam mit Kindern aus Giswil und Umgebung in einer Kooperation mit der Schule Giswil (Jacques & Sofie Berchtold, Arno & Linus Blättler, Dario Camenzind, Jeremias & Melina Gurtner, Zainab Ameer Zaman): Die Bibliothek Wanderlust
Wir versammeln uns auf der Rückseite der Turbine, dort wo die Festbänke sind. Mara verteilt auf Karton geklebte Kinderzeichnungen und instruiert die Zuschauer*innen, sich nachher in die Halle zu begeben. Eine kleine dunkle Gestalt mit rotem Mützenhemd und einem Besen stellt sich uns in den Weg und wischt vor und in unsere Füsse hinein. Sie erinnert an den Begleiter des Samichlaus, den Schmutzli, und auch an den Zauberlehrling, der den Besen mittels eines Zauberspruchs in einen Knecht verwandelt.Drinnen in einer Ecke steht, der Wand zugewendet, ein schwarz drapiertes, dunkles Wesen. Die Kinder scheinen ihm zu vertrauen, sie verstecken sich unter seinem ausladenden Mantel, bevor sie einzeln in den grossen Raum rennend ausströmen, wie das Kinder gerne tun, wenn sie so viel unverstellten Platz zur Verfügung haben. Jedes Kind setzt sich alsdann auf einen bereitstehenden Stuhl. Ein Zuschauer*in mit einer Zeichnung in der Hand wird eingeladen, sich auf den Stuhl ihm gegenüber zu setzen. Die Kinder erzählen die Geschichten der Zeichnungen, die sie im Workshop gemacht haben. Sie werden von uns umvölkert, erzählen den gespannt Zuhörenden ihre ‚neuen’ Sagen in ihrer je persönlichen Haltung, scheu verhalten und doch selbstverständlich selbstbewusst. Die Zeichnung gibt ihnen Halt und vielleicht auch die dunkle Gestalt. Ist sie Zeremonien- und Zaubermeister und guter Geist in einem? Denn sie bleibt immer da, kauert sich hie und da neben ein erzählendes Kind. Die Anwesenheit der Kinder schafft eine lichte Stimmung. Der Raum, in dem ich schon viele Kunst-Performances erlebt habe, verwandelt sich. Die Geschichten und Sagen sind Kitt zwischen den Menschen in der Turbinenhalle. Sie verbinden, schlagen Brücken, bringen Raum und Zeit mit Zuschauer*innen und Kindern zum Fliessen. Imran erzählt hinterher, dass im Workshop nicht abgemacht gewesen sei, dass die Kinder sich unter seinen Mantel begeben würden, das hätte sich einfach so ergeben. Das schwarze Wesen, dessen Identität nicht festgemacht werden kann, ist es Bedrohung und Schutz gleichermassen? Es und die Kinder haben einen Pakt geschlossen, denn zum Schluss verschwinden sie gemeinsam, wie vom Zauberbesen weggefegt.
Tina Z’Rotz & Markus Schwander & Rahel Kraft: Wunder & Wasserfall
Markus und Tina, die Hellraumprojektor-DJ’s und Folien-Collageure, die Tüftler dieses ‚Acts’, sind damit beschäftigt, uns die Landschaftsgänge ihrer Wandergruppe vom Nachmittag neu aufzutischen. Zusammen mit Rahel, der Stimmfrau bauen sie ein Landschaft-getöntes Stimmungskonzert und ‚scratchen’ visuelle Collagen aus Zeichen-Formen-Farben auf meterlange Folie: Markus und Tina halten die Spitzen mehrerer verschiedenfarbener Boardmarker auf die Folie, stromförmige Topographien mit Wellenlinien entstehen. Sie arrangieren zurechtgeschnittenes Folienmaterial auch Wahrnehmungs-Empfindungswörter, die die Wanderer*innen aufgeschrieben haben, auf die Leuchtfläche und schütten verschiedene Materialien darauf aus, z.B. aus einer Petflasche Wasser in eine Schüssel, zuletzt lassen sie noch Popcorn spicken. Der Hellraumprojektor zoomt heran, was auf der Netzhaut und im Körper-Gedächtnis der Wanderer*innen hängen geblieben sein könnte, und wirft das transformierte Material als Schatten-Farben-Formen-Spektakel auf die Wand. Der Hellraumprojektor wird zum Performance-Mikroskop und verstärkt visuell das Soundgemenge oder auch umgekehrt.Immer wieder entleert sich das Bild, weil Rahel, die Stimmfrau einen Handwagen, der die Folie zieht, immer weiter weg vom Hellraumprojektor bewegt. Rahel jongliert mit Obertönen, mit hohem Vibrato, mit den Geräuschen von Naturmaterialien, mit Feedback aus den Lautsprechern und mit den Zahlen 7 3 4 28 34 22 … Obwohl diese Zahlen nicht die Fibonacci-Reihe darstellen, wird hier vielleicht trotzdem nach dem goldenen Schnitt zwischen dem Erlebt-Erwanderten am Nachmittag und seiner Übertragung in den Turbinen-Raum gesucht.Das Klatschen der Zuschauer*innen am Schluss plätschert wie starker Regen.
Nicole Buchmann: UnschuldKarin Dähler: Das letzte Geläut der alten Kirche
Den Anfang von Nicole Buchmann’s Performance habe ich nicht gesehen. Ich bin dazugekommen, als sie vor der Wand in einem Ende der langen Turbinenhalle, uns zugewandt am Boden kniet. ‘Sie ist eine Jungfrau’, was immer das heissen mag, kommt mir in den Sinn, wenn ich sie beobachte, wie sie mit grösseren Steinen auf ein ausgebreitetes weisses Tuch schlägt, unter dem etwas Rotes liegt. Die Schläge dröhnen und das Rot drückt durch und färbt das Tuch. Hinter ihr, der Wand entlang Teelichter-Kerzen in Reih und Glied. Welches Opfer bringt sie dar, geht mir durch den Kopf. Als die grösseren Steine immer heftiger auf das Tuch fallen-schlagen, hören wir Geläut. Aus dem Halb-Dunkel der Turbinenhalle in Richtung Tür-Tor-Öffnung auf der anderen Seite der Halle blickend, sehen wir Karin Dähler als stark leuchtende, klingende Gestalt vor dem Hintergrund des beleuchteten Vorplatzes und dem Nachthimmel. Beim Nähertreten ist sie schwarz gekleidet mit einem kleinen Kreuz auf dem Kopf und mit je einer Glocke im Mund, auf der Brust, auf den Beinen, dem Gesäss und in der einen Hand. Die Scheinwerfer haben sie zur bewegten Kirchturm-Leuchtgestalt gemacht. Ihre Glocken bewegt sie einzeln, die Reihenfolge weiss ich nicht mehr, es könnte sein: Mundglocke, dann Brustglocke, nachfolgend Beckenglocke und zuletzt Hand- und Gesässglocke, um wieder von vorne zu beginnen.Die zwei Frauengestalten stehen nun nebeneinander: eine weiss leuchtend und weich fliessend, und die andere fest dunkel, an die Kluft von Priestern erinnernd. Hell und Dunkel, die Unschuld und das letzte Geläut, zwei Sagen-Legenden-Frauen stehen leibhaftig vor uns. Als was für Fragezeichen in die Zukunft?
Milena Buckel: gesagt, getan
Draussen hinter dem Gebäude, da gibt’s eine grosse rechteckige Pfütze. Mitten drin steht die junge Frau in selbigem blau rot weiss gemusterten Dirndl, wie wir sie im Wald und auf der Burgruine am Nachmittag gesehen haben. Sie wird von einem Scheinwerfer beleuchtet. Sie steht eine Weile einfach da. Dann spaziert sie begleitet vom Jodelchor, der aus ihrem Korb singt, aus dem Licht, den Kiesweg hinunter, wir ebenso wie wir ihr am Nachmittag in den Wald hinein gefolgt sind, jetzt brav hinterher in die Turbinenhalle hinein. In einem Lichtstrahl breitet sie das weisse Tuch aus, das sie schon den ganzen Tag begleitet hat, und hier auf dem Boden ein weisses Tischtuch-Rund wird. Lüpfige Ländlermusig tönt aus ihrem Korb, während die Frauengestalt stumm bleibt. Ist sie aus einer anderen Zeit in die Turbinenhalle gefallen und will uns etwas sagen? Was könnte sie uns sagen wollen? Oder könnten die beiden Verben im Titel ihrer Performance suggerieren: getan ist gesagt? Die Ländlermusig schafft eine heiter angeregte Stimmung. Wir klatschen, ein Tänzchen gefällig?
Eliane Rutishauser & Beat de Roche: Nachhallzeit
Milena ist weg. Während (ihre) Ländlermusik in unseren Ohren noch nachklingt, ist der Rhythmus eines dezent dumpf klingenden Ta – TaTa – Ta, Ta – TaTa – Ta, Ta – TaTa – Ta aus der hinteren halbdunklen Ecke, da wo wir vorher in die Halle hereingekommen sind, vernehmbar. Eine Gestalt ‚zwängt’ sich in den Raum — ebenso verhalten dumpf wie das Ta – TaTa – Ta blitzt etwas golden auf, verdeutlichen sich, je weiter sich die Figur in den Raum bewegt, eine goldene Hemdjacke und versteckt-bedeckte Gesichtszüge unter einer Strumpfmaske. Die Figur klopf sich im Rhythmus Ta – TaTa – Ta, Ta – TaTa – Ta auf die Brust und bewegt sich langsam durch den ganzen Raum bis zur grossen Türe am anderen Ende und verschwindet nach draussen. Was klopft da in die verhallte Zeit des ganzen Tages mit seinen Wanderungen und Performances, in die verhallten Zeiten der Sagen, Geschichten mit ihren Verhängnissen und Verhältnissen, die wir heute erfahren haben?
INTERNATIONAL PERFORMANCE ART GISWIL 2018 – WANDERLUST8. / 9. / 10.9.2018PERFORMANCE / RESONANZ / NETZWERKTREFFEN3 Tage / 3 Formate / 3 Öffentlichkeiten
Eingeladene Künstler*innen:Nicole Buchmann & Karin Dähler & Peter Lienert (OW)Milena Buckel (VD)Eliane Rutishauser & Beat de Roche (ZH)Tina Z’Rotz & Markus Schwander (BS) mit Rahel Kraft (Musik)Imran Nafees Siddiqui (Lahore/PK) & Habib Afsar & Mara Züst (ZH)gemeinsam mit Kindern aus Giswil und Umgebung in einer Kooperation mit der Schule Giswil