Ich muss vorweg nehmen und die Leser_innen bitten, keine Bedeutung in die Auswahl der drei ausführlich beschriebenen Performances (Lauren Huret, Katja Schenker und Romy Rüegger) hineinzuinterpretieren. Es ist Zufall, dass ich diese drei Performances nachbearbeitet habe. Sie sind mir sozusagen zugefallen. Während diesen Performances hatte ich Papier und Stift zur Hand und schrieb automatisch mit und habe mich im Hinterher weiter in sie «hineingeschrieben». Auch bei Philipp Wichts Performance hatte ich mitgeschrieben, nur habe ich diese nicht , weiterbearbeitet sondern gebe sie hier im marginal-rudimentären Textstil des während-der-Performance-Schreibens direkt wieder.
Lou Masuraud & Antoine Bellini
Big Bodies
im Pilatussaal
nicht mitgeschrieben
Lauren Huret, mit Charlotte Nager
I left my head and my heart on the dance floor
im Terrassensaal
Als ich den Terrassensaal betrete, sitzen viele Zuschauer_innen bereit(s) auf Kissen am Boden. Angekündigt wird vom Moderator Marco Meier, dass die Performance von Lauren Huret globale Themen und solche der Finanzwelt anpeilen würde und die Künstlerin zwei Masters gemacht hätte…. Obwohl ich nicht sagen kann, was diese Ankündigung genau vorweg nimmt, so wirkt sie wie ein Passierbalken, an dem jede_r vorbei muss, was einen bestimmten Ton setzt und eine unbekannte Wirkung entfaltet, die ich jetzt, im Hinterher beim Schreiben nicht erkennen und benennen möchte. Die Zuschauer_innen sind so dicht beieinander, wo hat da die Performerin Platz? Der Raum entfaltet einen spiraligen Sog zur Mitte hin, aber mich und auch einige andere drückt er nach aussen an den Rand, zu Wänden und Vorhängen. Zwei Frauen, Lauren Huret mit ihrer Assistentin Charlotte Nager, treten vor. Sie tragen grüne Kleiderröcke und zu schwarzen Langhaar-Perücken farblich abgestimmte Strümpfe, Stulpen und Turnschuhe, auch ihre Lippen sind sehr dunkel geschminkt. Lauren Huret spricht: «I was not expecting so much people» und «I ask you to lay down, there are pillows for your heads». Verhaltenes Gelächter aus dem Zuschauer-Dickicht, wobei sich die meisten Zuschauer_innen ausstrecken oder sich spätestens jetzt bodenwärts bewegen. Ich vermute eine «Soft-Performance». Analog zu Soft-Qualitäten in anderen Bereichen bezeichne ich diese Performance so, wenn sie Zuschauer_innen auf eine «weiche» Art einbezieht, das könnte heissen, sie werden eingeladen, sich zu entspannen, «den Alltag loszulassen». Ich muss anfügen, dass ich vorbelastet bin: ich praktiziere Körper-Bewusstseinstraining im Alltag als Beruf und als Übung, weshalb sich bei mir von Anfang an Zweifel einstellen, diesen Ansatz der Selbsterfahrung im Performancepreis-Setting vermittelt oder vorgeführt zu bekommen. Aber ich bin neugierig und will beobachten. Also los: «… Relax …». Nur wenige bleiben den Wänden entlang auf Klappsesseln sitzen. Ich lehne Rücken an Rücken mit Eveline, weil der harte und kalte Boden wenig einladend wirkt und ich schreiben will. Menschen liegen kreuz und quer mit ausgestreckten Beinen, ihre Körper unterschiedlich lang – ein ungewöhnliches Bild. Menschen horizontal auf dem Boden so angeordnet aus der Vogelperspektive habe ich auf Bildern für Werbung, von Tanzdokumentationen und als Kunstprojekt schon gesehen, aber noch nie so dicht angeordnet auf engem Raum. Aus meiner Sitz-Perspektive scheint sich die Decke zu senken. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die gezogenen grauen Vorhänge, die den Raum abdunkeln, den dunklen Boden und die am Boden ausgebreiteten ebenfalls eher dunkel gekleideten Leiber. Je länger ich der weichen Stimme von Lauren Huret, mit französischem Akzent in den englisch gesprochenen Anweisungen, zuhöre und die ausgestreckten Menschen beobachte, um so mehr verflüchtigt sich die graue Schwere im Terrassensaal «… we are going to perform this relaxing session, i hope you will relax … Another thing, if you can shut your cell-phones off, this will be amazing … if everybody is comfortable we start …You may now close your eyes, taking time away from busy life …». Jetzt hat ihre Stimme mich eingeholt, und was hier vor sich geht, zieht mich trotz meinen anfänglichen Vorbehalten in seinen Bann: Ich schaue auf entspannte Gesichtszüge, mit unter den Lidern nach innen gerichteten Augäpfeln, auf Innenschau aus, auf ein Meer von inneren Lächeln. Die Stimme der Performerin und elektronische ätherische Sphärenklang im Hintergrund geben den Mix für ein Ambiente, das alles Eckige, Kantige, Kollektive und Gesellschaftliche sofort aufweicht und jede_n Einzelne_n auf einen sonderbaren, autogenen massgeschneiderten Erfahrungstrip mitnimmt. Lauren scheint Erfahrung zu haben, wie «Body Awareness» vermittelt wird und ist ernsthaft dabei. Ein Teil von mir lässt sich ein, geht soweit in Sitzposition möglich mit, ein anderer bewertet diese Aufbereitung als Stereotyp eines heute gängigen marktkompatiblen Wohlfühlprogramms. Als Performance erfahren könnte diese Entspannungsstunde einen Dreh ins Ironische abbekommen, doch ich erlebe sie gerade nicht als ironisch gemeint. Das Timbre von Lauren’s Stimme ist in Einklang mit dem Inhalt der Sätze, die innere Bilder erzeugen und wohl dosiert wie kleine Kekse verteilt, keine Sprünge machen und keine Holperungen verursachen. Ernsthaft und systematisch, aber wohl temperiert benennt sie alle wichtigen Körperteile, scannt den Körper von den Füssen zum Kopf hin durch und bindet ihn an einen erweiterten (universellen) Raum «… body pressing at certain contact, sensation of breathing … the stars above us moving … process of breathing … move your attention to your feet .. arch, heels etc. …» und zappt uns durch die Zeiten des irdischen globalen Erdraumes und seiner Erfindungen «… we are now in 1984, 100 computers are connected … early internet system …», verschiebt Ereignisse, die Geschichte geworden sind, in die horizontale Erfahrungsebene und somatisiert sie. «… CD-Rom 1985 … Microsoft released windows ..», sanft aber stetig treibt sie unsere Vorstellung weiter die Beine hinauf zum Rumpf «… relax all your intensions … 1986 … relazing that part of the bodies are containing memories … waves … 1987 …» und vom Rumpf zum Kopf und einer weiteren Chronologie von Menschen-Daten und Jahresereignissen entlang «… what are the sensations … population 5 billion … notice now how it feels to be in 198… your legs are completely relaxed … playfull curiosity of the body … attention wandering to other places …». Becken und Bauch sind «really important parts» … 1989 Berlin wall, end of cold war … in Switzerland world wide web with 100’000 computers connected …». Jetzt sind wir 1993 angelang «… can you picture your life in 1993 … perhaps you were a child …», ich war kein Kind mehr! «… DVD, Amazon … computer viruses …». Die Assistentin der Autorin-Performerin steht mit geschlossenen Augen stumm neben mir, wankt leicht, ich sehe einen Ring mit einem Totenkopf (?) und ihre schwarz angemalte Fingernägel ganz nah vor meinen Augen. Was mich ablenkt: der kalte Boden, der meine Gesässbacken immunisiert und das Gefühl wie diese Kälte auch in die Körper der horizontal flach liegende Menschen hineinkriecht und diese womöglich damit beschäftigt sind, die nicht willkommene Kühle in etwas Anderes zu verwandeln. «… 1 billion people in India … knowledge is global … 200 million users of internet … popular device the i-phone … movie avatar the most expensive movie of all time … releasing your eyes from all tension …». Eingeschoben werden auch ausgewählten Katastrophen als monumentale Einbrüchen in den Alltag «… nine eleven … twothousandandten huge earthquake …». Wir sind beim Kopf angelangt und jetzt, hier in der Gegenwart. «… sinking feeling, remembering still present … here breathing, picture your brain, still unknown … we are now in twothousendandtwelve … seven billion people … gratitude to yourself for sharing this … experience your mind is loose, rested, now wiggle finger toes …. feeling of presence …». Lauren hat die ganze Zeit, am gleichen Ort stehend ihren Text ab Blatt gelesen und so Kontrolle über Text und Ort, das Hier und Jetzt und die liegenden Menschen ausgeübt. Wir sind an sie angedockt gewesen. Ich hätte lieber nur ihrer weichen Stimme zugehört ,ohne «wattierende» Sphärenmusik. Eine seltsame Konstruiertheit nimmt im Nacherleben der Performance, jetzt in der Erinnerung schreibend überhand. Aber vielleicht ist das gerade die Nuance Ungereimtheit, die mich herausfordert: Da war was, eine Erfahrungsreise, die für mich Absicht geblieben ist. Aber selber bin ich schuld, ich hätte mich eben auf den Boden legen, mich mit allen meinen Teilen einlassen müssen.
Katja Schenker
vesuv
im Pilatussaal
Ich habe die Ankündigung von Marco Meier nicht mitbekommen, schlüpfe gerade kurz bevor Katja beginnt, sie steht noch am Rand bei einigen Zuschauer_innen, in den Pilatussal.
Schlüpfriger Boden empfängt sie, als sie mit einem weissen Stein an einer Schnur in die Mitte des Lichtkreises tritt. Sie fängt an den Stein zu schwingen, die feinen schwarzen Halbschuhen mit Ledersohlen geben ihren Füssen wenig Halt. Nachher erfahre ich, dass sie verschiedene Schuhe ausprobiert hat und diese hier Gummisohlen haben. Katja sucht die Mitte und rutscht wie auf einem nassen Flosse, hin und her. Der Stein schleudert polternd sein Gewicht über den Boden. Rumpelt es so, wenn die Magma im Untergrund aufgewühlt wird? Oder ist es dumpfes Bullern, wenn grosse Steinen im Fluss von anschwellenden Wassermassen hin- und hergeworfen werden, oder grosses Donnern eines heranziehenden Gewitters? Hier sind mindestens zwei am Werken: Katja und der Stein, er treibt sein Schwerkraftspiel mit ihr, sie muss höchst konzentriert bleiben, sonst könnte ihr der Stein und die Situation entgleiten. Katja setzt mindestens drei Ks, Kompetenz, Konzentration und Kraft ein, um die Kontrolle über den Stein zu behalten. Der ins Rund geschleuderte Stein nimmt keine Rücksicht auf sie und auch keine auf die Zuschauer_innen. So ist Katja ganz besetzt von den Handreichungen, die den Stein in seine Bahn zwingen. Der Stein wiederum setzt sie seinen zentrifugal wirkenden Kräften und seinen Unwägbarkeiten aus.
Der weissen Stein, ein Alabasterstein? Meine Nachbarin-Zuschauerin meint, es sei Marmor. Wir werweisen immer noch, als der Stein in seiner Bahn ein ums andere Mal in unsere Richtung schlägt und ich plötzlich eine klitzekleine Stelle ausmache, durch die in einem Moment Licht hindurchschimmert und die gleiche Farb-Schattierung, wie Katja’s Haut im Scheinwerferlicht zurückwirft. Es ist Alabaster! In der Bestätigung sirrt der Name des Steines mit durch die Luft.
Das Licht ist auf einen Mittelpunkt, auf die Drehachse der Performerin zentriert. Lichtführung und Stein teilen den Zuschauer_innen auf zwei Seiten ungefragt ihre Plätze zu und halten sie in Schach. Hier auf meiner Seite, wo ich stehe, befindet sich hinter uns ein Durchgang in einen anderen Ausstellungsraum, es hat Platz zum Ausweichen. Einige Zuschauer_innen auf meiner Seite weichen zur Seite, der Stein bedroht sie. Niemand wagt den Raum zu durchqueren, unmöglich, da gefährlich. Auf der gegenüberliegenden Seite, können die Zuschauer_innen nicht ausweichen, der Dreh-Akt drückt sie auf der hölzernen Zuschauer-Tribüne an die Wand. Sie scheinen sich nicht zu rühren: verharren sie so ruhig im Glauben den Stein damit in sein Kreisfeld zu bannen?
Katja hat sich viel vorgenommen und ist entschlossen angetreten. Die Lichtführung unterstützt sie. In der Konzentration wie sie die Stein-Schnur von der rechten zur linken Hand reicht, immer nach links und oft auch mit dem Stein mit-drehend, ist in jedem Moment Wille zur Gestaltung sichtbar. Und auch ein Hinweis auf die Vorbereitung, die technische Aufbereitung dieser Aktion: Da ist wahrscheinlich nichts dem Zufall überlassen worden, die Wahl des Steines, wie der Hacken in den Stein geschraubt ist und wie die Handreichungen der Stein-Schnur erfolgen müssen. Denn, jetzt, hier hat sie keine Wahl, einmal angefangen, muss sie wie ein Perpetum Mobile aufrecht erhaltend, was sie macht, muss sie weitermachen, das Andere wäre aufhören – etwas dazwischen gibt es nicht.
Später wird Katja’s Atem wie bei Top-Tennisspieler_innen, die Atembrocken auf ihr Racket und das Racket auf den Ball schleudern, hörbar. Der Stein flirrt immerzu über den Boden und er berührt ihn immerfort unerbittlich, was ein gleichmässiges rumpelndes Dröhnen verursacht. Verbrannter Geruch von Feuersteinen bahnt sich in die Nase. Und da! Der Stein entschlüpft dem Kreisprogramm und prellt in die Wand, nur einen flüchtigen Moment lang, und hinterlässt einen Hick. Nun Geruch von Gegrilltem in der Nase.
Katja’s Aktion wird für mich zum Licht-Bild, das jeden Diskurs momentan in sich aufsaugt. Es zieht mich zum Stein und auch von ihm weg, aber ich kann nicht weg, ich müssten den Raum verlassen, aber ich will den Raum nicht verlassen, so kann ich nur schauen, gebannt schauen auf die Bewegungen des Steins, auf die Performerin im Lichtschein, die sich kompromisslos einlässt auf die Herausforderung, die sie mit dem Stein provoziert und evoziert. Bildrealität hergestellt unter sparsamster Auswahl eines wuchtigen Mittels und mit aufwendigem Krafteinsatz her(aus)gestellt: Eine wagemutige Kämpferin, eine Amazone, wie sie als Motiv auf griechischen Vasen zu finden ist? Die Spur des Steines: ein dichter mehrspuriger weisser Kreis legt sich über die Zeit lind auf den Boden und brennt sich allmählich als visuelles Bild ins Augenlicht. Wille zur Formgebung und der sinnliche Bezug zu den eingesetzten Mitteln beeindrucken. Auch wie Aesthesia, die Sensibilität und die Fähigkeit wahrzunehmen, sich in Anaesthesia, körperliche Verausgabung, Schmerz und andere Sensationen, wandelt und wieder zurückverwandelt und in den Drehstrudel gesogen werden.
Romy Rüegger
I left my head and my heart on the dance floor
im Terrassensaal
Der Moderator Marco Meier erwähnt, Erzählräume und Widerstandsebenen würden sich in der Performance von Romy Rüegger auftun und sie sei eine Arbeit ohne Titel. Und wiederum Details aus ihrem Curriculum.
Romy betritt den Terrassensaal linksseitig der Zuschauer_innen und liest aus einem kleinen Büchlein im Gehen. Sie begibt sich zur Leinwand mit einer Projektion von einem Chilbi-Riesenrad. Ja dieses Riesenrad steht tatsächlich draussen vor der Terrasse auf dem KKL Gelände.
Romy habe ich bereits in einer ihrer früheren Lecture-Performances erlebt. Sie flechtet mit gesprochenen Gedanken, Textsätzen auf weissen A4-Seiten, Bildern von Blumen (hier und jetzt im 4. Stock des KKL-Gebäudes Bougainville) aus Lexikas, recherchierten Details zu Begebenheiten, Ereignissen, Gebäuden und anderweitigen Merkmalen von Lokalgeschichte. Sie verwebt Globales mit Lokalem, Banales mit Feudalem. Ihr Textgewebe überkreuzt Fäden des Privaten mit Fäden des Politischen, verbindet durch Pflanzennamen das Heute mit dem Früher, benennt im Dunkel der Zeittiefe versunkene und ungenannt gebliebene Protagonistinnen, die Zeitgeschichte hätten schreiben können. Romy deckt unter all den Entdeckern rare Entdecker_innen auf. Sie setzt sie uns vor, katapultiert sie in unsere Zeit. So meint sie, meinen wir diese Vergessenen zu erkennen, ja sie damit anzuerkennen, doch momentan entschwinden sie immer wieder im Textgewebe, um später an anderer Stelle wieder aufzutauchen und wieder erneut zu entschwinden.
Sie mischt ihre Erfahrungen hier und jetzt im Terrassensaal mit solchen von denen sie gehört und über die sie gelesen hat: Eine alte Landkarte mit einer eingezeichneten Seeroute von Europa bis Asien von anno dazumal, aus dem 17. Jahrhundert (?) ist auf der Leinwand zu sehen. Sie wurde von Piratinnen befahren, die als Frau ausgezogen und als Mann mit «fake names» in Schiffe eingestiegen seien: Jean Barret — schreibt sich ihr Name so, heisst sie so, oder habe ich ihn nicht richtig verstanden? — sie hätte die Welt umrundet. Eine andere Stimme ab Audio spricht von Mary Read. Die Piratin und Freibeuterin Mary Read, setzt sie für uns auf den Vierwaldstättersee und dreht damit die Logik des Entdeckens um. Wir entdecken sozusagen vor unserer Haustüre, dass Mary Read im 18. Jahrhundert als Mann gekleidet auf einem Kriegsschiff und einem Sklavenschiff anheuerte, sich Piraten anschloss und so auch die Piratin Anne Bonny traf und zu dritt mit Calico Jack gefürchtet und berüchtigt, mordend und plündernd durch die Karibik gezogen sei. Letzteres habe ich nachträglich bei Wikipedia nachgelesen. Eine Calamity Jane der See!
Romy bleibt, unaufgeregt und gleichmütig, sie behält ihre Contenance. Vielleicht gefällt mir diese ihre Haltung, weil es mir als Performerin schwer fällt, die Contenance zu halten, ich Emotionen als Material einsetze. Ich kann jetzt beim Schreiben im Zug, als ich an diesem Text weiterarbeite, als ich Romy’s Performance nachsitze, das Timbre ihrer Stimme nicht hören. Ist ihre feine Stimme in der Lautstärke, wie wenn sie vor einem steht und beiläufig über ihre Arbeit redet oder von Anderem spricht, ihre Stärke? Was macht diese Stimme mit mir, mit uns? Was auf der Hand liegt: Romy’s Stimme will uns nicht verführen, aber mit einer Fülle an Text, Bild und recherchierten Fakten, mit Sound von einer Vinyl-Platte — sie hat einen Plattenspieler, nebst Verstärker auf Tischchen installiert – unsere Aufmerksamkeit bei der Stange halten. Sie mäandert mit ihrem Material fast beiläufig, auf alle Fälle unspektakulär durch dieses Zeitfenster im Terrassensaal, ein Indiz dafür wie sie fast am Ende der Performance, Marzipanfrüchte aus dem Cellophan-Säckli nimmt und auf ihren Tisch in Entfernung von unseren Nasen, aber gut sichtbar hinlegt.
Woher kam der Satz «I am not in your history»? Aus einem abgespielten Punk-Mädchen-Powersound-Lied oder hat sie das gesagt oder die Audiostimme? Fragt sie mit Marguerite Duras « …. was I awake or dreaming?» Und mit wem fragt sie « … are you an underground … »? Wieder eingesprenkelter Gesang von einer Vinylplatt « … ne … bool them ne schooo schem … ». Zwei junge Frauen neben mir fangen an zu wippen, der eingespielte Sound wird kaum angefangen schon wieder unterbrochen, zu kurz die Einspielung, als dass ich die Worte hätte verstehen können. Und bereits ist Romy im Zug durch den Gotthard und will uns weiss machen, dass es wie am Mittelmeer sei. Wo, draussen, in der vorbeiziehenden Landschaft? Mindestens zweimal erwähnt sie, dass gemäss Esther Ferrer die Peformance kein Zuhause habe. Und wieder der Gotthard. Die Reisenden in Zügen würden kontrolliert, die helleren gingen durch. Und jetzt, ich befinde mich schreibend im Zug von Buchloe nach Zürich, überholt die Realität die Performance von Romy auf der Höhe von St. Margarethen. Als ich mich ins Abteil neben zwei jungen Männern setze, eine fast leere Wasserflasche im übergestülptem Pappbecher aus dem Zugsbistro neben ihnen am Boden, vermute ich, dass sie ihrem Aussehen nach aus Syrien oder Afghanistan stammen könnten. Hin und wieder sprechen sie in gedämpfter Stimme zueinander. Dann wieder lehnt der eine seinen Oberkörper ganz vornüber, krümmt sich zusammen, wie wenn er in sich selber versinken wollte. Plötzliche fragt der andere, als der Zug hält, aufgeschreckt ins Zugsabteil: «Zürich?» Kurz vor St. Margarethen erscheinen zwei Grenzbeamte in signalgelben Westen und fordern die beiden jungen Männer forsch auf mitzukommen und auszusteigen, hinter ihm taucht ein Polizist auf, der ebenfalls vier bis fünf junge Männer vor sich her aus dem Zugsabteil treibt. Sie gehen alle stumm hintereinander nach draussen. Durch das Zugsfenster sehe ich auch noch eine Familie aus ??? mit Grenzbeamten. Dann fährt der Zug weiter. So schnell wie Romy in ihrer Performance die Ebene gewechselt hat, kann ich sie jetzt nicht wechseln, die Situation steckt mir in den Knochen; ich versuche die Reaktion der anderen Zugreisenden und auch meine zu beobachten. Hier im Zug der Beweis, dass Romy’s vorher beiläufig formulierter Gedanke täglich mehrfach Tatsache wird und ich als Zeugin dieser Situation, nicht weiss, wie ich mich verhalten soll, ob ich mich hier einmischen sollte, wie vielleicht manchmal auch in Performances. In Romy’s Performance will ich mich nicht einmischen, ich will zusehen, wo ihre Reise hingeht, wie sie die Situation handhabt, moduliert, kommentiert, abstrahiert. Aber vielleicht mische ich mich jetzt im Hinterher beim Schreiben in ihre Performance ein, weil ich in einem anderen Raum schreibe, eben im vollen Zugsabteil von Buchloe nach Zürich.
Und eben Romy wechselt schnell die Ebenen, von politischen Tagestatsachen, «Real Facts», zu Erinnertem, zu Recherchiertem nicht nur über Piratinnen, auch über Lokal- Geschichtliches, z.B. über Emmenbrücke und die Viscose-Industrie von damals. Nachher erfahre ich von Romy, dass die projizierten, bewegten Figuren auf der Leinwand Figürchen aus der Viscose-Fabrikation gewesen seien. Die haben ziemlich echt ausgesehen. Ich meinte das sei sie, ein Tomboy, ein Junge, eine Frau mit Kappe in cooler Pose, nicht identifizierbar. Mary Read und Anne Bony seien die bekanntesten Piratinnen, der analogen Piraterie gewesen. Dass das Wort Analog für diese Art von (Piraten-) Maschinerie in einer «angerosteten» vergangene Zeit auch hierfür eingesetzt werden kann, ist eine kühne Übersetzung von einer Zeit in eine andere.
Restnotizen zu Romy’s Performance, die ich im Hinterher nicht mehr unterbringen kann: damit ereignis geschieht, muss es in umlauf gebracht werden – ein name ist wie ein zimmer, viele haben zuvor darin gewohnt – twing, on a twig, tara, I am a twing tip..s…. (kann wort nicht lesen) fly..er.. (kann wort nicht lesen), kind of punk – madonnen-power-song
Philippe Wicht
Prom
im Pilatussaal
weisses bettleinentuch über mensch = gespenst – dünne beine – turnschuhe, turnhose – ballone – tisch mit party-snacks und getränke, migros-budget-preis – harmlose musik – dramatische geste des entkleidens – bonjour à tous, mon bal de promotion, la fin des études, mal passée, une tragédie difficult pour moi – envie de le changer, de le refaire, mon bal de promotion, recréer une souvenir, pour oublié les soucies – pas les fêtes, pas assise (was bedeutet das?) – hyper speech + dann saft (orangener saft!) über den kopf geleert – er tanzt zu musik, hüpft herum (ziemlich wild und ziemlich gut) – musik-sound-sound-sound – wo ist er? – verschwunden – leute stehen herum – revenue dans mon adolesence, chanson dans ma face?? (weiss nicht, was ich da geschrieben habe) – de paix, le soir je pleurs sur la sole? (weiss nicht, was ich da geschrieben habe) – arrêter de m’humilier, je vais respirer – klopft dabei (beim singen) auf ein tambourine, immer stärker, immer stärker, er wird es kaputt machen – er verschwindet – tabourine wird herumge….??? – alle meinen die performance sei zu ende – er kommt wieder – la fête n’est pas finie – est-ce-que quelqu’un est télékinésique? – bouger objet par les pensées, activité paranormale – qui veut faire? – leo (bachmann, musiker/komponist) meldet sich – une chose simple, pieds bien sur le sole et la réspiration – c’est moi que tu veux bouger – leo fragt, ob er auf französisch denken muss – gelächter – performer macht beispiel le…nte..ment…… ( wort das ich nicht mehr lesen kann) – leo fixiert und philipp bewegt hand – philipp: ça fonctionne und bewegt hand in richtung hose und geschlecht – unterbricht – er fällt, strauchelt, sagt das sei jemand anderer (schaut zu uns herumstehenden) gewesen – sind das unsere geheimen wünsche, die wir selber nicht kenne, weil wir gar nicht wissen, was wir denken? – hat er das mit leo gemacht, um uns seine zustände vorzuführen, wie gekonnt er sich in zustände hineinversetzen kann? – er wird spastisch, er kommt in zustände – führt er vor, oder ist er wirklich in dieeesen zustäääänden? muss er beruhigt werden? müssen wir eingreifen, damit er aufhört, oder sind wir voyeure_innen und wollen zusehen, wie sich eine_r vor uns verausgabt, auskotzt oder produziert? – leute klatschen, weil er veschwindet – er ruft etwas aus dem anderen raum – will paranoide situation schaffen – hat rotes samtkleid übergezogen, verdreht vor uns die augen – ist das gespielt gefühlter htten…. (kann wort nicht lesen) – jetzt wird’s ernst, licht verändert sich (flackert, wie in einer séance) – macht er das oder die regie? wenn geste nach oben, dann dunkle musik und tabourine, gegenstände husten???? (kann wort nicht lesen), fangen an zu …. (es schepperte hinter einer türe in einem anderen raum, wie wenn die geister losgelassen worden wären, ich in die richtung der geräusche und öffne die türe einen spalt und sehe, wie einer vom kunstmuseum lärm macht, für philipp oder fürs museum, weil er hier arbeitet?) – es issssst theater, der einsatz gross und ebenso gross unser aberglaube. wir wollen wahrhaben, was wir sehen – performance entwickelt sich von leicht beschwingter, harmlos unterschwelliger zu paranoider situation ……
Angela Marzullo
Makita Shooting
im Terrassensaal
nicht mitgeschrieben
Lilian Frei, mit Stella Glitter and Guests
Marmor Stein und Eisen bricht
im Pilatussaal
nicht mitgeschrieben
Zürich, 08. Jan. 2016
© Dorothea Rust (Autorin, Künstlerin, 8003 Zürich)
rust.doro@bluewin.ch, www.dorothearust.ch
→ siehe auch Text von Michael Sutter über dieselben Performances