Dorothea Rust:Es spricht das Seil
Dorothea Rust schreibt zur Eröffnungsperformance von Angela Hausheer und Judith Huber am Samstag, 29.8.2020 anlässlich ihres Projektes «ZUSAMMEN zwischen uns und überhaupt» vom 29.8.-19.9.2020 im Kunstpavillon Luzern.
judith und angela im o.T. — es spricht das seil
ich, das seil kann für vieles stehenbin ein elastisches elementeigentlich schlaff, jedoch auch zugfestbiege- und torsionsweichkann ich mich in alle richtungen bewegenein nützliches ‚tool‘ seinzusammenbinden und distanzmessenoder die freiheit einschränkengewalt, kontrolle in abstufungen ausüben
ich das seil im o.T. bin auch schnurkönnte entfernung, nabelschnur, distanzhalter seinzwischen den zwei schwarzgekleidetengestalten, frauen-figuren, judith und angelawegen meiner crèmefarbefüge ich mich dezent in das ‚intérieur‘ des o.T.dränge mich in keiner sekunde farblich auf
mit mir dem seil ist schon viel performt wordensind behinderungen durch mich das seilschon zigfach durchexerziert wordendieser gedanke springt von mir dem seilauf mindestens eine zuschauende person überund sofort wieder zurück zu mir
was hier im o.T. ur- und tatsächlich geschiehtdie beiden gestalten könnten statthalterinnen seinsie halten nicht das heft, aber mich das seil in der handsie sind mit mir dem seil verbundenüben fast lautlose kontrolledurch mich aufeinander und auf andere aushalten die ‘konnektschen’im zwischenraum von ihrem zusammen-da-sein
ein teil von mir ist immer sichtbarirgendwann haben sie mich um ihre lenden gebundenmeine kurven und linien zeichnenfiligrane vibrationen und temperaturverschiebungenihrer kontaktnahme, die weder konsens noch koalition istnoch sonst irgendetwas definiertes zelebrieren will
aufmerksamkeit und bedachtkonzentration und empfindlichkeit liegen in der luftkeine eine will zu starke impulse abgebenkeine eine die andere übertrumpfensie dosieren sich gegenseitigschalten sich in stiller differenz gleichüberlappend wegzeichnend, angemessen und sachtesetzen sie ihre schritte um einander herumneben, hinter und über mir dem seil, der schnurchoreografierte meditation?
die rundum zuschauendensind lauter als die beiden seilhalterinnenihre aufmerksamkeit brummt in den zwischenraumvon mir dem seil, ich der schnur und den zwei figurengedämpft durch ihre gesichtsmaskenmerken die rundum zuschauenden evtl. nicht wie sie sitzen oder stehenwie sie sich verschieben, wenn ihre position unbequem wirdich spüre anflüge ihrer aufmerksamkeit auf mirwas mich fragen lässtwelche funktion die zuschauenden haben?ob ihre anwesenheit rand und begrenzungder zweierkonstellation mit mir dem seil, der schnur ist?nun, ich und sie an den enden von mirwie wirken wir zusammen?
im weitwinkel ihrer augenschauen die zuschauenden in viele augenüber masken-bedeckten mundendiese maske(rade) steht für eine andereunsichtbare globale wirklichkeiteine andere wirklichkeit als die, die ich das seilich die schnur in dieser performance symbolisiere und mittransportiereoder dreht sich im angesicht der pandemie meine anwesenheit?bin ich schliesslich auch ein anzeigerfür unsere allgemeine, verletzliche kollektive situation?
wie hiess das freche italienisch sprechende linienmännchendas in den röhrenfernsehzeiten in den 60er/70er jahrenüber die bildschirme seine unfuglinien zog?‚la linea‘ von osvaldo gavandolider italienische zeichner wollte mit ihr immer ‚una bella figura‘ macheneine simple linie schien sich magisch zu verselbständigenunterlag aber der totalen kontrolle ihres urhebers
hier bei mir ist das ganz andersdie beiden wollen mit mir nichts darstellen oder herholenmir nicht zeigen ‚wo’s lang geht‘aber mit mir ‚gute figur machen‘, vermute ichwollen sie schon und will auch ichso kräusle, ringle und welle ich mich zwischen den beidenwobei unsere beziehung souverän bleibtin keinem moment sich verknotetauch wenn sie mir zwischenzeitlich das zepter übergebenlasse ich mich nicht zu spässen hinreissenich nütze diese freiheit nicht ausund so ganz wohl ist mir bei soviel verantwortung nichtdenn wenn jemand etwas zu dieser performance sagen möchtemüsste dieses feedback an mich das seil, die schnur adressiert werden
ich sehe mich eher als mediatorzuständig für einen subtilen unbestimmten, geistigen kontaktim zusammen zwischen ihnen und überhauptist dieser job für mich machbar, ja angenehmich gerate nie in eine heikle situation
ein bisschen kitzel und adrenalinschub verspüre ichals angela an mir unmissverständlich ziehtund ich wiederum an judith ziehen mussdieser moment macht mich ganz wach und ich wäre bereitwenn etwas unerwartetes dreinfunken würdezum beispiel ein einziges wort, ein laut von den beidenda wäre plötzlich etwas anderes dawas mich das seil, die schnur ziemlich herausfordern würde
ah jetzt körpergeräusche von judithich sehe sie nicht, spüre aber ihre handsie zieht langsam an mir und ich an angelabis ich eine gespannte linie binder abstand zwischen den beiden quer durch den raumist diese seilspannungin die ihre beziehung nun hineingelegt worden istdann lassen die beiden die spannung losich schlingere in der ganzen diagonallänge des raumes
nun gibt es von beiden seiten doch noch stärkere impulsedie beiden seilhalterinnen übernehmen wieder das zepterich das seil komme in schwingung, fühle mich dynamisiertals ich zum seilspringen hochgeschaukelt werdefindet ein gedachtes kein reales seilspringen stattdann brechen sie meinen schwung ab
nun, wer bezähmt wen hier im o.T.?sie die seilbeschwörerinnen, die sie nun geworden sind?mit allem drum und dran sich gegenseitig?und sie mich, das seil und ich die zuschauenden?wir haben uns in der handauch dann als die eine die andere fürs finale zu sich heranzieht